Einführung
Immer wieder höre ich in meiner Praxis folgende Aussagen: „Ich fühle aber nichts.“, „Wie fühlt sich das an, wenn man fühlt?“ „Alle sagen, ich soll in mich hineinhorchen. Wie soll das gehen?“ … Verzweiflung macht sich in den Gesichtern der Fragenden breit.
In diesem Artikel möchte ich versuchen, eine allgemeine Antwort anzubieten:
Neuronale Grundlagen des Fühlens
Jedem Gefühl geht eine neuronale Aktion voraus. Dein Nervensystem reagiert unwillkürlich auf einen Reiz. Diese Reaktion wird von Deinem Gehirn registriert. Dieses wiederum versucht, diese Empfindung abzugleichen, um einordnen zu können und zu entscheiden, wie darauf zu handeln ist. Das wiederum ist abhängig davon, welche Erfahrungen Du gemacht hast, bzw. auf welchen Erlebnisspeicher Dein System zurückgreifen kann.
Die Bedeutung der Sinne
Deine Sinne sind dafür da, dich in Deiner Umgebung zu orientieren. Wir sind allerdings immer mehr dazu kultiviert, unsere Sinne zu ignorieren, über unsere Wahrnehmung hinweg zu gehen und auch froh darüber, nicht mehr alles wahrnehmen zu müssen.
Kontakt zur eigenen Wahrnehmung herstellen
Wenn ich allerdings feststelle, dass ich überhaupt keine Information bekomme bei der Frage: Wie geht’s mir eigentlich jetzt gerade – in diesem Moment, dann sollte mich das doch aufhorchen lassen. Wir können lernen, uns dem wieder anzunähern, vorsichtig wieder Kontakt aufzunehmen zu dem, dem wir immer weniger zugehört haben und das jetzt schweigt.
Eine praktische Übung zur Wahrnehmung
Ich lade Dich hiermit zu einem ganz konkreten Weg ein:
- Nimm eine Stoppuhr und stelle sie auf 3 Minuten.
- Setze Dich ganz aufrecht auf einen Stuhl, ohne Dich anzulehnen. Die Beine sind leicht geöffnet, die Knie im rechten Winkel abgewinkelt. Beide Füße stehen nebeneinander auf dem Boden. Richte Deine Wirbelsäule ganz auf, mache Deinen Hals lang, stelle Dir vor, Du würdest am Scheitel leicht nach oben gezogen, um in völliger Aufrichtung zu sein.
- Stelle nun den Wecker auf Start. Lasse Deine verschränkten Hände entspannt in Deinem Schoß ruhen. Schließe die Augen und atme einmal tief durch.
- Versuche, Dich nicht zu bewegen – außer der Atmung natürlich – einfach nur für die verbleibende Zeit. Gibt es irgendwo in deinem Körper einen Impuls, dich zu bewegen, dich anders hinzusetzen – es bequemer zu machen? Wo genau? Oder gibt es mehrere Orte in Dir, die gerne ihre Position optimieren würden? Frage ganz konkret nach: Wie sollte die Position denn am besten sein? Spüre hin – ohne etwas zu verändern, ohne zu beurteilen.
- Wenn der Wecker klingelt, löse Deine Haltung, stelle den Wecker neu und bringe Dich in die gewünschte neue Position, um Dich weitere drei Minuten nicht zu bewegen.
- Höre Dir zu. Wo könntest Du Deine Sitzhaltung wieder bequemer gestalten – wenn die 3 Minuten endlich rum sind. Spüre hinein in Dich, versuche genau zu lokalisieren, auch wenn die Intensität oder der Ort sich durch die Beobachtung verändern. Nimm auch das wahr – ohne es zu bewerten.
Der Verstand und die Wahrnehmung
Der Verstand hat das Bedürfnis, die Situation zu analysieren, abzugleichen mit ihm bekannten Ereignissen und Erlebnissen. Während er aber mit dem Abgleich und Einordnen in Dein an-erlerntes Weltkonstrukt beschäftigt ist, behindert er damit Deine Aufmerksamkeit auf den Moment. Das ist ein Problem. Die vom Verstand geforderte Kapazität hindert Dich an der Wahrnehmung des JETZT. Gefühle sind nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Sie können ausschließlich im gegenwärtigen Augenblick erfahren werden. Der gegenwärtige Augenblick ist also die einzige Zeit, in der wir unser Leben wahrhaftig erleben können. Die Sinneswahrnehmungen sind dazu da, uns lebendig zu fühlen. Das ist ein unglaubliches Geschenk.
Fazit
Wenn Du diese Übung einige Male wiederholt hast, kannst Du Dich fragen, ob Du in diesem Bedürfnis nach Positionswechsel (ohne dem nachzugeben) ein Gefühl ausmachen kannst. Lass Dir Zeit. Da wir unsere Sinne aber ausschließlich im Jetzt wahrnehmen können – also weder in der Zukunft noch in der Vergangenheit – gibt es eine Krux, wenn unser Verstand immer sofort beim Erleben dazwischen quatschen muss. Wir wurden schon als Kinder konditioniert, die Vernunft über die Wahrnehmung zu stellen.
Eine persönliche Erfahrung
Ich sitze in Griechenland an einem einsamen Strand. Das Wasser ist herrlich, türkis und klar. Eine leichte Brise kräuselt die Wasseroberfläche und erschafft kleine Wellen. Ich genieße diese Ruhe, die sich in mir ausbreitet, während ich einfach nur den Wellen beim Kommen und Gehen zusehe. Plötzlich schwebt ein brauner Schleier etwa drei Meter von der Uferlinie im Wasser vorbei. Meine Augen schärfen den Blick und betrachten die bräunliche Abzeichnung. Der Verstand sagt: „Das wird der aufgewühlte Sand von den Wellen sein.“ Aber warum nur dort und nirgends anders? Ich kann es nur unklar erkennen. „Wenn da direkt vor Dir im Wasser etwas so Großes tatsächlich wäre, dann würde doch hier niemand baden gehen!“ sagt mein Verstand. Die Antwort ist unbefriedigend. In mir diskutiert es. Irgendwann springe ich auf, wecke meinen schlafenden Mann und rufe aufgeregt: „Da, siehst du das? Was ist das?“ Das Ding taucht natürlich wieder ab. Ich bin total aufgeregt. Ich kann doch meiner Wahrnehmung trauen – oder? Nein?
Seit Jahren fahren wir immer wieder an diesen Strand. Wir wissen, dass die gesamte Küste ein Schildkrötenschutzgebiet ist. Meine unermessliche Ignoranz (mein Verstand) ist davon ausgegangen, dass hier niedliche, griechische Landschildkröten gemeint sind. Riesige Meeresschildkröten, die bis zu 160 kg schwer sind, mit einem Durchmesser von bis zu über einem Meter, kommen zu dieser Jahreszeit an die Strände, um ihre Eier in der Nacht in den Sand zu graben und wieder ins Meer zurück zu robben. Der gesamt Strand ist voll von ihren Spuren, von ihren Gelegen, von den Mahnmalen der Räuber (Füchse, Hunde, Kojoten… die die Eier ausgraben und die tischtennisballgroßen Schalen hinterlassen, nachdem sie den Inhalt verzehrten).
Schlusswort
Ich glaube, wir müssen unbedingt wieder anfangen, unseren Wahrnehmungen zuzuhören und uns zu vertrauen, dass wir wahrnehmen können. Und uns nicht von anderen oder unserem Verstand sagen lassen, was wir wahrnehmen und was wir nicht wahrzunehmen haben, weil wir (oder die Wissenschaftler) keine Worte oder kein Wissen darüber haben. Ich teile dieses Erlebnis mit Euch, weil ich so tief berührt wurde von einem Gefühl der Demut. Meine Wahrnehmung kann ich nur ohne den Verstand schulen. Hinterher kann der Verstand dann seinen sicherlich auch wertvollen Beitrag leisten. Aber der Verstand behindert den Moment des Erlebens. Er verhindert die direkte Wahrnehmung. Er verhindert, dass wir uns auf unsere Sinne und unser Gespür wieder verlassen.
In Liebe, Charlotte Novotny
Hört euch gerne den Podcast dazu an: